Übers Lesen und Schreiben


Ich liebe Bücher und Geschichten, seit ich denken kann.
Sonntagmorgens schlüpfen wir zu den Eltern ins Bett. Vati schlägt „Grimms Märchen“ auf. „Allerleirauh“ will ich hören, immer und immer wieder. Die Geschichte von der Königstochter, die zum Aschenputtel wird und am Ende ihren König heiratet.
Mädchenträume.
Mutti kommt ins Kinderzimmer und setzt sich mit dem „Räuber Hotzenplotz“ zu mir ans Bett. Ich ducke mich mit Kasperl, als der große und böse Zauberer Petrosilius Zwackelmann auf seinem Zaubermantel über die mondbeschienene Hohe Heide fliegt.
Abenteuerwelten.
Morgens vor der Schule. Nachmittags nach der Schule. Abends mit der Lampe unter der Bettdecke: Ich lese und lese und lese. Enid Blytons „Fünf Freunde“. Die „Pucki“-Bücher meiner Tante. Kästners „Doppeltes Lottchen“ …
Wenn ich lese, vergesse ich die Welt um mich herum.
Als ich zum ersten Mal den Impuls zu schreiben verspüre, bin ich noch in der Grundschule. Ein Kinderbuch soll es werden, eine Geschichte inspiriert von Astrid Lindgrens schwedischen Kleinstadtwelten, mit lustigen Streichen, einer furchtlosen Heldin und Schlittschuhlaufen auf zugefrorenen Flüssen.
Ich sehe mich am Esszimmertisch sitzen, konzentriert, den Bleistift in der Hand. Über die ersten paar Seiten komme ich nicht hinaus.
Lesen ist ja so viel einfacher als schreiben ...
Schreiben ist etwas, das ich nur tue, wenn ich dazu aufgefordert bin. Vom Briefeschreiben abgesehen. Damals, als man noch Briefe schrieb.
Schule. Uni. Es kostet mich Überwindung, mich dranzusetzen. Doch wenn ich schreibe, spüre ich immer wieder diesen Flow. Und wenn ich den letzten Punkt setze und eine Arbeit nochmals durchlese, bin ich zufrieden.
Es gibt Lob und Anerkennung. Das bestärkt mich.
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​Ich werde Journalistin. Mache ein Volontariat und arbeite als Redakteurin bei einer Tageszeitung. Schreibe oft in Eile, manchmal noch abends nach dem Termin für die nächste Ausgabe.
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Schnell, schnell, gleich ist Andruck.

Ich entwickle Vorlieben. Für Geschichten, die von Menschen erzählen. Für die Samstags-Kolumne. Für das mit einem Augenzwinkern Erzählte.
Und wie wohl jeder Journalist und jede Journalistin träume auch ich immer wieder davon, ein Buch zu schreiben.
Vielleicht. Irgendwann.
Bücher lese ich nur noch im Schneckentempo. Zu müde.
Oder im Urlaub. Dicke Schmöker am Strand. Murakamis „Mister Aufziehvogel“. Feiner Sand zwischen den Seiten.
Dann kaufe ich mir einen Kindle.
Und entdecke eine neue Welt.
Ich lese, lese, lese. Ein Buch nach dem anderen. In der
S-Bahn, im Wartezimmer, im Bett. Kein Papiergeraschel,
das meinen Mann nicht einschlafen lässt. Kein störendes Licht von der Nachttischlampe. Meine Augen sind dankbar für die flexible Schrift.
Ich verliebe mich in Liebesromane.
Englisch wird meine Lesesprache.
Ich bewundere die Autorinnen. Ihre sprudelnden Ideen, ihre Kunst, eine Szene an die andere zu knüpfen und mich mitzunehmen auf die lange Reise zum Happy End.
Love is everything.
Es ist ein Tag im April. Frisch. Wolkenverhangen. Ich erzähle einer Bekannten, wie mein Mann und ich uns begegnet sind. Eine Liebe über Länder- und Sprachgrenzen hinweg. Eine Liebe, die als Urlaubsflirt begann und nun schon mehr als dreißig Jahre wächst und reift.
Against all odds.
„Darüber solltest du einen Roman schreiben.“
Ich schüttle den Kopf.
Dann sterben meine Eltern. Ich fühle mich zeitlos, doch die Endlichkeit wird mir bewusst. Dreißig Jahre gelernt. Dreißig Jahre gearbeitet. Mit Glück habe ich noch dreißig Jahre vor mir.
Was will ich tun in diesen dreißig Jahren?
Und plötzlich ist alles ganz klar.
Schreiben will ich. Schreiben muss ich. Liebesromane.
Über zwei Menschen, die sich begegnen und beschließen, gemeinsam durchs Leben zu gehen. Über dieses Wunder, das Tag für Tag geschieht.
Jede Stunde.
Jede Minute.
Jede Sekunde.
Überall auf der Welt.
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Matilda Meng